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Der Mann, der nicht sterben wollte - von Aceval Naceur-Charles
Vorwort von Prof. em. Dr. Hermann Bausinger, Tu?bingen Lange Zeit hielt man bei uns die Märchen fu?r eine deutsche Erfindung oder wenigstens fu?r ein besonderes Zeugnis nationaler Tradition. Bis man zur Kenntnis nahm, dass die Bru?der Grimm viele ihrer Erzählungen protestantischen Flu?chtlingen aus Frankreich verdankten und dass ähnliche Geschichten in
Vorwort von Prof. em. Dr. Hermann Bausinger, Tu?bingen Lange Zeit hielt man bei uns die Märchen fu?r eine deutsche Erfindung oder wenigstens fu?r ein besonderes Zeugnis nationaler Tradition. Bis man zur Kenntnis nahm, dass die Bru?der Grimm viele ihrer Erzählungen protestantischen Flu?chtlingen aus Frankreich verdankten und dass ähnliche Geschichten in ganz Europa verbreitet waren. Und der Horizont musste noch erweitert werden. Das Stichwort global, oft nur eine wichtigtuerische Vokabel, ist hier tatsächlich angebracht: Märchen gibt es fast u?berall, und eine ganze Reihe der deutschen Märchen kommt aus dem Orient und aus dem arabischen Raum. Dass sie jetzt nicht mehr nur u?ber die Literatur vermittelt werden, sondern auch durch den lebendigen Auftritt von Märchenerzählern und -erzählerinnen, ist ein besonderes Geschenk. Ein Geschenk, das freilich den Konflikten und Spannungen in der Welt zu verdanken ist, denn auch diese Erzähler sind vielfach Flu?chtlinge. Naceur-Charles Aceval gehört dazu. Er wuchs in Algerien auf, an den Rändern der städtischen Zivilisation und in der Nachbarschaft von Nomaden. Er erlebte seine Kindheit selbst im Nomadenzelt, in großer Armut; seine Mutter erzählte Märchen, um ihre Kinder den Hunger vergessen zu lassen. Wahrscheinlich hat es diese Funktion auch bei uns gegeben, und u?berhaupt kann man von Aceval lernen, welche Rolle Märchen fru?her allgemein gespielt haben. Er versetzt uns in eine Zeit, in der die Geschichten noch nicht in eine feste literarische Form gebracht waren, sondern ihre jeweilige Gestalt der Stimmung, dem Geschick und auch der Laune des Vortragenden verdankten. „Die Geschichten sind Lebewesen“, sagte Aceval in einem Gespräch – deshalb waren sie nie gleich. Der Einwand liegt nahe, dass diese besondere Eigenheit ja doch zwangsläufig verloren geht, wenn einige Geschichten nun in einem kleinen Buch vorgestellt werden. Aber das stimmt höchstens halb. Erstens wird Aceval auch beim Vortrag seiner Texte ins Fabulieren und ins freie Erzählen geraten. Und zweitens hat er das Buch so angelegt, dass er nicht nur einzelne Geschichten präsentiert, sondern er erzählt auch vom Erzählen – von den besonderen Bedingungen (fru?her durften die Frauen, die großenteils fu?r die Erzähltradition zuständig waren, ihre Geschichten nur bei Nacht vortragen), den verschiedenen Temperamenten der Erzähler (der eine ziert sich zuerst, ein anderer legt gleich los) und von der Verflechtung der Geschichten mit der Realität, der Lebenswelt des Erzählers und seiner Zuhörer. Dafu?r hat Aceval eine gute Voraussetzung geschaffen mit einer besonders eindringlichen Rahmenhandlung, die schon im Titel des Buchs angedeutet ist: „Der Mann, der nicht sterben wollte“ erfährt und erlebt auf seiner Suche nach einem Ort ohne Friedhof ein gutes Dutzend Geschichten. Fu?r deutsche Leser haben diese Geschichten einen doppelten Reiz. Immer wieder stoßen sie auf Motive und Handlungszu?ge, die ihnen vertraut sind; aber es ist auch der Reiz der Exotik, des Fremden und Ungewöhnlichen, wie es etwa in der schnellen Abfolge verru?ckter Verwandlungen zum Ausdruck kommt, die ein beru?hmter Zauberer bewerkstelligt. Aber gleich das nächste Märchen fu?hrt zuru?ck in bekanntes Gelände: Das Rätsel, fu?r dessen Lösung eine große Belohnung ausgesetzt ist, taucht mit seinen komplizierten Fragen auch in den Kinder- und Hausmärchen der Bru?der Grimm auf. Und wenn der alte Löwe das ihm zugelaufene kleine Mädchen als Habra bezeichnet, als Leckerbissen, und darauf wartet, dass es bald nicht mehr „nur Haut und Knochen“ ist, erinnert das an Hänsel und Gretel. Aber die Eigenschaften einer bösen Hexe hat der Löwe dann doch nicht; er behandelt das Mädchen fu?rsorglich und liebevoll. Darin liegt eine weitere Besonderheit der Geschichten. Sie mu?nden öfter in eine Weisheit, in eine Moral. Manche der Geschichten mit ihrem Blick auf alltägliche Realitäten und ihren klugen Bemerkungen u?ber das Leben lassen fast mehr als an die Grimmschen Märchen an die Kalendergeschichten Johann Peter Hebels denken. Dass einem dieser Vergleich in den Sinn kommt, sagt auch etwas aus u?ber die poetische Qualität dieses Bu?chleins mit seiner farbigen Schilderung einer eigentu?mlichen Kultur und mit seiner ruhigen und doch lebhaften Art des Erzählens. Märchen sind eine eigenwillige poetische Gattung. „Es war so, wie es nicht war“, heißt es in der Einleitung einer marokkanischen Märchengeschichte. In keiner anderen literarischen Form ist der Pendelverkehr zwischen der fassbaren Realität und einem unfassbaren Phantasieraum so lebhaft und so ungestört. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass Märchen weit verbreitet sind, dass man sie fast u?berall kennt. Märchen sind Allgemeinbesitz; sie gehören niemandem. Aber die Erzählerinnen und Erzähler geben ihnen einen eigenen Ton.

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